Die Dozentin Sabine
2020er Jahre
Hi, mein Name ist Sabine* und ich bin Dozentin am I. Physikalischen Institut der Uni Göttingen. Ich halte dieses Semester die Einführungsvorlesung in die Experimentalphysik. Das Wichtigste zuerst: wir zeigen natürlich immer noch Experimente in den Vorlesungen. Die Studierenden erzählen euch gleich selbst, was ihnen besonders hängen bleibt. Auch möchte ich euch die Lehrsammlung für die Vorlesung zeigen – sozusagen ein Blick „Hinter den Schatten“. Selbstverständlich hat sich seit Pohl einiges verändert, zuletzt vor allem durch die Corona-Pandemie. Wir Dozierenden mussten kreativ werden, aber das ist eigentlich nichts Neues für uns. Dass ich als Frau eine Vorlesung halte, war zur Zeit Pohls auch ziemlich undenkbar und heute normal. Aber natürlich ist immer noch Luft nach oben, was Gleichberechtigung in der Physik betrifft.
*Die Persona Sabine basiert auf der Post-Doktorandin Sabine Steil, die zum Zeitpunkt des Projekts „Projektionen. Die Lehrsammlung Robert Wichard Pohl“ als Dozentin in der Experimentalphysikvorlesung für Nebenfächler an der Uni Göttingen tätig war.
Kapitel
Heute noch Theater?
Pohl hat das seinerzeit verpöntes und belächeltes Experimentieren in der Vorlesung wieder salonfähig gemacht. Und auch heute noch sind solche Demonstrationen ein wichtiger Bestandteil der Experimentalphysikvorlesung, trotz Beamertechnik und Computersimulationen. Die Zahl der Versuche ist gesunken, dafür werden sie genauer erklärt. Trotzdem hat die Einführungsvorlesung immer noch Momente einer Theatervorstellung. Drei Studierende zeigen, was sie mit der Vorlesung verbinden und erzählen uns, was ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist.
Wenn man in Göttingen Physik studiert, kommt man an einem Objekt nicht vorbei: dem Drehstuhl, der in der Vorlesung verwendet wird, um das komplexe Phänomen der Drehimpulserhaltung zu demonstrieren. Er ist mir als einer der eindrucksvollsten Versuche in Erinnerung geblieben, was sicher auch der Einfachheit und Anschaulichkeit geschuldet ist.
Marie, Studentin im Master of Education Physik und Englisch
Video zur Gravitationsdrehwaage. (Ausschnitt aus: https://youtu.be/8W8X71wW8F0.)
Als besonders beeindruckend habe ich die Gravitationsdrehwaage von Cavendish in Erinnerung. Sie dient der Bestimmung der Gravitationskonstante und wurde von Cavendish zur Berechnung der Erddichte verwendet. Für mich war weniger die Berechnung der Gravitationskonstante begeisternd, sondern, dass die Gravitation zwischen so kleinen Kugeln mit Laser und Spiegel am Torsionsfaden sichtbar gemacht werden konnte. Für mich war das einer der Momente, der gezeigt hat: Physik ist überall! Faszinierend!
Simon, Student im Master of Education Biologie und Physik
Wenn ich an die Experimentalphysik-Vorlesungen denke, dann kommt mir sofort das Pohl’sche Rad in den Sinn. Ich finde es beeindruckend, dass es seit der Erfindung durch Pohl immer noch eine große Rolle spielt und in den Vorlesungen und Praktika eingesetzt wird.
Marco, Student Master of Education Physik und Geschichte
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Lehrende Frauen
Wie leider zahlreiche Akademiker seiner Zeit hielt Pohl nicht viel von Frauen in der Wissenschaft. Er hatte selbst keine Doktorandinnen und arbeitete auch nur sehr wenig mit Frauen zusammen. Auch heute begegnen wir naturwissenschaftlich interessierten Frauen vielen Vorurteilen. Zwei Frauen aus den Physikalischen Instituten der Uni Göttingen berichten euch aus ihren Erfahrungen, welchen Stereotypen wir noch immer aufgrund unseres Geschlechts ausgesetzt sind.
Welchen Hindernissen oder Stereotypen waren Sie während des Studiums oder sind Sie noch immer ausgesetzt?
Dr. Sarah Hoffmann-Urlaub: Mein Hintergrund als Arbeiterkind hat mir wahrscheinlich eher zugesetzt als das Frau-Sein. Ansonsten hatte ich immer den Eindruck, dass ich gleiche Chancen hatte.
Dr. Sabine Steil: Ich kann hier nur aus meinen Erfahrungen berichten. Ich habe 2003 an einer kleinen Uni angefangen zu studieren und um ehrlich zu sein, begegneten mir dort keine Hindernisse. Den Stereotypen und Hindernissen war ich eher zu meiner Schulzeit ausgesetzt und auch mehr im persönlichen Umfeld. Im Privaten kamen die klassischen Sprüche, wenn einmal eine Note nicht so gut war. „Es wird immer einen Jungen geben, der besser ist als du.“ Mit diesem Satz wurde ich mal getröstet, weil ich in einem Thema, das mir wirklich sehr gut lag, nicht die volle Punktzahl bekam. Eine weitere Anekdote verdanke ich meiner alten Kinderärztin, die meine Mutter aufforderte, mich von der Universität zu nehmen, da Physik doch zu schwer für mich sei. Diese Situation empfand ich als sehr übergriffig, denn ich war damals (2004) bereits volljährig. Der Stereotypus, der in diesen Fällen zu Grunde lag, ist, dass Frauen im logischen und analytischen Denken nicht gleich talentiert sind wie Männer.
Finden Sie Frauen (und marginale Gruppen) werden in der Wissenschaft noch immer nicht ausreichend gefördert?
Dr. Sabine Steil: 1997 fand die erste Physikerinnentagung der DPG statt und 1998 gründete sich der Arbeitskreis Chancengleichheit. Da Wissenschaft ein globales Netzwerk ist, ist es auch nicht erstaunlich, dass sich Ende der 90er Jahre auch internationale Arbeitsgruppen gebildet haben. Hier hat sich also schon vor mehr als 20 Jahren einiges bewegt und das sieht man auch im Frauenanteil. Im Studium lag dieser um das Millenium noch bei unter 10%, bis ca. 2010 stieg er auf etwa 20%. Dort blieb er die letzten Jahre relativ stabil. 2018 scheint es einen leichten Anstieg zu geben, dieser könnte mit der Ausbildung der Schwerpunktstudiengänge (Umweltphysik, Biophysik) zusammenhängen. Dies sind zwar sehr kleine Studiengänge, haben aber mit über 40% in diesem Jahr einen sehr hohen Frauenanteil. Auch wenn sich schon viel bewegt hat, so ist da immer noch Spielraum.
Der Förderbedarf ist aber nicht nur Aufgabe der Wissenschaft. Der Abbau der Stereotypen „Mädchen sind nicht gut in…“ und „Jungen sind nicht gut in..“ ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Dr. Sarah Hoffmann-Urlaub: Man nennt zwar die Erziehungszeiten im CV [Curriculum Vitae, Lebenslauf], von denen man zwar berechtigt hoffen kann, dass sie in Bewerbungsverfahren günstig ausgelegt werden; aber in Summe hat eine Frau eben nicht die Gelegenheit gehabt, die einschlägigen Publikationen zu veröffentlichen oder Drittmittel einzuwerben, wie ein gleichaltriger, männlicher Kollege. Da wo es auf die harten Zahlen ankommt, haben die Frauen das Nachsehen.
Wie sehen die Statistiken zu Frauen in der universitären Physik aus?
Dr. Sabine Steil: Seit 2000 werden die Zahlen der Studienanfänger und Abschlüsse in der Physik geschlechtsdifferenziert erfasst (Quelle: Physik Journal 17 (2018) Nr. 8/9). Bei den Physikstudenten liegt der Anteil an weiblich gelesenen Personen seit einigen Jahren stabil auf ca. 20% (2018: Bachelor 23%, Master 22% und Promotionen 24%). Das ist im Vergleich zu meinen Studienanfängen eine Verdopplung der Zahlen und ist auch sichtbar in den Hörsälen und Seminaren.
Der Knick kommt zurzeit erst nach der Promotion, bzw. der „Nachwuchsphase“. Dies kann einerseits daran liegen, dass der Anstieg des Frauenanteils sich einfach noch nicht bis zu dieser Qualifizierungsstufe fortentwickelt hat, immerhin braucht es mehrere Jahre von der Promotion bis zur Professur. Andererseits ist man nach der Promotion in der Entscheidungsphase: Familie gründen oder nicht. Hier sind die Herausforderungen für eine Chancengleichheit also anders geartet als zu Beginn des Studiums.
2010 lag der Anteil bei den Promotionen bei 18%, bei den Habilitanten und Juniorprofessuren bei ca. 20%, bei den W2 Professuren bricht es dann auf ca. 8% ein. Vergleicht man die Zahlen nach Qualifikationszeiten sortiert, zeigt sich, dass Physikerinnen statistisch gesehen tatsächlich gleiche Chancen haben, aber insgesamt einen geringen Anteil ausmachen (Quelle DPG AKC Vortrag Christine Meyer und Agnes Sander 02.11.2013, darin verwiesen auf das statistische Bundesamt).
Welche Anmerkungen haben Sie zum Thema Gleichberechtigung?
Dr. Sarah Hoffmann-Urlaub: Hab heute grad im DPG-Journal (05/22) gelesen, dass Publikationen mit Frauen in der Autor:innen-Liste durchschnittlich weniger häufig zitiert werden, als rein männliche Autoren-Kreise. Frauen werden also systematisch benachteiligt.
Die Vereinbarkeit von Karriere und Kindern, die zumeist Problem der Frauen ist, muss verbessert werden. Hier fehlt es an Betreuungsplätzen – man muss froh sein, wenn man einen bekommt und kann sich die geographische Lage nicht immer aussuchen. Auch das System Elterngeld ist miserabel, da man ordentlich Steuern nachzahlen muss. Beides sind natürlich keine wissenschaftsspezifischen Aspekte, kommen aber trotzdem zum Tragen. Hieraus erwächst aber die Tatsache, dass man sich Kinder „leistet“.
Dr. Sabine Steil: Wo es schwierig wird, ist bei Familien und Kinderlosen. Erste Schritte gibt es, so werden Kinder in den Förderrichtlinien und Hochschulgesetzen durch Zeitgutschriften bedacht. Und auch Betreuungen werden angedacht und bereitgestellt, sind aber häufig nicht flexibel genug, um mit der Lebenswirklichkeit eines Wissenschaftlers mitzuhalten. Hat man als Wissenschaftler eine Familie gegründet, ist es immer noch so, dass einer zurückstecken muss. Vielleicht nicht im klassischen Rollenbild, aber ein Partner muss sich vorrangig um das Private kümmern, damit der anderen Karriere machen kann und diese Entscheidung sollte bewusst getroffen werden. Denn die Konkurrenzfähigkeit gegenüber jemanden, der keine Kinder hat, ist definitiv beeinträchtigt, wenn man das Familienleben gerecht aufteilt. Was nicht heißen soll, dass es hier nicht auch geniale Ausnahmen gibt. Auch entscheiden sich oft Frauen für das Kümmern, so dass eine gleichberechtigte Aufteilung ihnen bereits in der Karriere helfen würde.
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Beständiger Wandel
Durch die Corona-Pandemie hat es große Veränderungen in allen Universitäten gegeben – so auch an den Physikalischen Instituten der Uni Göttingen. Plötzlich mussten die Experimente per Live-Übertragung von den Hörsälen in die WG-Zimmer Studierenden gesendet werden. Dafür waren Umbaumaßnahmen in den Hörsälen und neue Darstellungsmethoden nötig. Veränderungen in der Lehre sind aber an sich nichts Ungewöhnliches. Auch ohne Pandemie entwickeln die Dozierenden ihren Lehrstil stetig weiter, um neuen Erwartungen und Anforderungen gerecht zu werden.
Der Austausch mit den Mitstudierenden, d.h. die Gruppenbildung (besonders in niedrigeren Semestern) zum gemeinsamen Rechnen und Üben ist [in der Online-Lehre] extrem erschwert. Für mein Dafürhalten ist ein Studium ohne diese Gruppen schwieriger und der Lernerfolg geringer.
Ich denke, dass wir viel im Hörsaal unbewusst wahrnehmen, was am Bildschirm verloren geht. [...] Allein die Möglichkeit, das Experiment prinzipiell anfassen zu können, macht es realer. Und wir neigen dazu, etwas, das wir als real wahrgenommen haben, mehr zu trauen. Der beobachtete Effekt wird weniger bezweifelt und die Frage nach der Physik dahinter kann zielgerichteter stattfinden.
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"Hinter den Schatten" – Pohl heute
Im Forschungsprojekt zur Lehrsammlung Pohl entstand ein Dokumentarfilm, der die Lehrsammlung als ‚Hinterbühne‘ des Vorlesungs-‚Theaters‘ und den Vorlesungsbetrieb in der Pandemie zeigt. „Hinter den Schatten“ stellt die Arbeit der Dozierenden und Hörsaaltechniker vor, die dabei auch selbst zu Wort kommen. Der Film zeigt dabei außerdem, welche Pohl’schen Ideen und welche originalen Geräte heute noch Teil des Vorlesungsbetriebs an der Universität Göttingen sind.
Dokumentarfilm „Hinter den Schatten“ von Sofia Leikam und Michael Markert, 2021 https://av.tib.eu/media/55731 [letzter Zugriff 26.09.2022].